Läuft.

von Verena Ullmann

Man kann nix dafür, mit wem man verwandt ist, dachte ich mir, als ich meinem Vater die Wodkaflasche über die Birne zog. Er fiel um wie ein Sack Kartoffeln und schlief auf dem Küchenboden seinen Rausch aus. Wenigstens war er jetzt still. Ich stopfte meine Klamotten und meine Wimperntusche in die alte pinke Reisetasche, nahm meinen Schulordner, und bevor er wach werden und mich weiter beschimpfen konnte, war ich schon ausgezogen. Ich quartierte mich bei meinen Freundinnen ein. Damals hatte ich noch welche. Zwei sogar. Jenna brachte ich bei, wie man am besten Accessoires aus Klamottenläden klaut. Und Jacky zeigte ich, wie man Gras anbaut. Beides sehr nützlich, finde ich. Wahrscheinlich profitieren sie heute noch davon. Dafür durfte ich abwechselnd bei ihnen schlafen. Natürlich wusste ich, dass das nicht ewig so bleiben kann, deshalb fing ich an, nach der Schule in einer Fast-Food-Kette zu arbeiten. Fettige Tabletts waschen, Müll rausbringen und sich anschreien lassen. Und ab und zu, wenn J&J aufs Klo gingen oder Rauchen und ich auf ihre Handtaschen aufpassen sollte, dann nahm ich mir bisschen Geld raus. Aber nur kleine Scheine, wenn sie doppelt waren. Das ist ihnen ewig nicht aufgefallen. Sind auch beide ein bisschen dumm, wenn ich ehrlich bin. Als es dann doch soweit war, bekam ich zum Glück das kleine Zimmer im Dachgeschoss über der Eckkneipe, in der mein Vater Hausverbot hatte. Da wohne ich heute noch und kann gut verstehen, dass das sonst keiner wollte. Es ist laut, verqualmt und doppelt so heiß oder kalt wie draußen, je nachdem. Das Geld reichte trotzdem erstmal nicht für die Miete und alles. Mit dem Eigentümer wollte ich auch nicht schlafen. Also schmiss ich die Schule und wurde zur Vollzeit-Burger-Einpackerin befördert. Papa wäre stolz auf mich, dachte ich mir damals. Aber wahrscheinlich hatte er da noch nicht mal bemerkt, dass ich weg bin.

Ich hätte ganz zufrieden sein können mit meinem Leben. Das einzige was mich störte, war dieser unerträgliche Geruch nach Frittierfett, der in meinen Haaren hing. Mir wurde schlecht davon. Und es roch einfach billig. Gucci wär gut, dachte ich mir. Das passt zu mir. Und hat Stil. Tatsächlich war nach diesem Tag plötzlich alles anders. Es war ein Dienstag, ich hatte Spätschicht und deshalb vormittags genug Zeit alles vorzubereiten. Ich ging in die schicke Drogerie am Stadtplatz und sah mich nach Überwachungskameras und Spiegeln um. Ich konnte nicht rausfinden, ob die Parfumpackungen gesichert waren, aber der große Tester war sowieso noch fast voll, der Laden leer und die Mitarbeiterinnen damit beschäftigt, sich über die Vorteile von Anti-Aging-Make-Up zu unterhalten. Der Flakon war schon in meiner Tasche verschwunden, als ich den Kerl bei den Nagelpflegeprodukten entdeckte. Er war groß, blass und starrte auf die Kunstnägel. Scheiße, dachte ich, das war’s. Am liebsten wär ich zur Tür gerannt. Aber das ist, wie ich es Jenna immer wieder gepredigt hatte, ein absolutes No-Go. Ich schaute mir noch ein paar Haartönungen an und schlenderte dann Richtung Ausgang. Ich bin noch nie erwischt worden, versuchte ich mich zu beruhigen, die ganzen Jahre nicht. Ich konnte spüren, wie sich unter meinen Armen riesige Schweißflecken bildeten. Gerade als frische Luft an meine Nase kam, packte mich der Blasse am Arm und zog mich zurück in die Duftwolke. „Junge Dame, ich hab genau gesehen, wie sie es eingesteckt haben. Bitte folgen Sie mir. Ich werde jetzt ihre Tasche durchsuchen müssen und die Polizei rufen.“ Er zeigte mir irgendeinen Ausweis, der aussah wie selbstgebastelt, und ich folgte ihm bereitwillig in einen kleinen Raum hinter der Kasse. Was blieb mir schon anderes übrig. Trotz Highheels waren seine Beine einen Meter länger als meine.

Der dunkle Verhörraum wurde nur von einer Schreibtischlampe beleuchtet. Der Kaufhausheini forderte meinen Perso, durchwühlte die Tasche nach dem Tester und spielte ein bisschen Moralapostel. So im Dämmerlicht sieht er eigentlich ganz gut aus, dachte ich mir und musterte seine Wangenknochen. Gleichzeitig wurde mir klar, wie ich stinken musste. Nach Angstschweiß und alten Pommes. Dafür bin ich nicht hergekommen. Er griff nach seinem Handy und kündigte zum dritten Mal an, dass er jetzt die Polizei verständigen werde. Ich nutzte die Chance, packte den Tester und sprühte mich schnell von oben bis unten ein. Wenn schon denn schon. Gucci ist im Knast wohl eher selten. Dem Kaufhausheini fiel das Handy vom Ohr, er packte mich an den Schultern, wahrscheinlich aus Angst ich würde uns beide in dem fensterlosen Raum ersticken, und ich scheuerte ihm eine. Reiner Reflex. Eigentlich wollte ich das gar nicht. Ich starrte ihn an. Er starrte zurück, japste nach Luft und sagte. „Könnten Sie das nochmal machen?“ Ich war mir nicht sicher, ob das Parfum Halluzinationen auslöste oder ob er das tatsächlich gesagt hatte. „Also … könnten Sie das wiederholen. Bitte?“, flüsterte er jetzt, als wär es ihm peinlich. Ich blickte mich in dem Raum um. War es eine Falle? Kameras konnte ich keine sehen. „Dann klär ich das auch mit der Polizei. Und Sie können gleich gehen. Jetzt sofort, wenn Sie …“ „Ja, das wär gut. Muss nämlich arbeiten heute Nachmittag“, sagte ich und klatschte ihm noch mal eine. Den Tester nahm ich natürlich mit.

Ich brauchte ein paar Stunden, um meine Gedanken zu ordnen. Auf der Arbeit kam mir dann eine Idee. Eine geniale Idee – naja, vorher weiß man das ja nie so genau – für die ich Geld brauchte. Als Pablo zum hundertsten Mal versuchte, die Softeismaschine wieder zum Laufen zu bringen, und mich bat, an der Kasse einzuspringen, ließ ich Zweihundert mitgehen. Das war zwar dumm, aber notwendig. Mittwoch hatte ich zum Glück frei und genug Zeit meine To-Do-Liste abzuarbeiten, die mich die ganze Nacht wach hielt. Als erstes ging ich zum Copyshop. Dort ließ ich mir fünfhundert Visitenkarten drucken. Mit meinem neuen Namen drauf und meiner Nummer. Dann gab ich ein halbes Vermögen im Sexshop aus, für ein Latexminikleid mit passender Maske, Handschellen und eine rote Lederpeitsche. Als letztes steuerte ich den Drogeriemarkt an. Ich brauchte Lippenstift, der zur Peitsche passt. Und meine platinblonden Fransen inklusive zehn Zentimeter Ansatz waren auch nicht mehr so sexy. Gerade als ich nach einer Packung Rubinrot-Haartönung griff, stand der Blasse schon wieder hinter mir. Er konnte mir kaum in die Augen sehen. „Da bist du ja endlich“, sagte ich. „Keine Sorge, ich zahl schon.“ „Gut, das ist gut … äh … ich bin Stefan übrigens.“ Ich drückte ihm eine Visitenkarte in seine vorgestreckte Hand. „Ruf mich an, Stefan.“ „Ja, ja klar, mach ich!“ Lief ja alles nach Plan.

Ich hatte gerade genug Zeit meine Haare zu tönen und freute mich über den aggressiv-chemischen Geruch, da klingelte schon mein Handy. Ich sagte Stefan meine Adresse durch und hoffte, dass er zumindest so lange hier her braucht, dass ich meinen Hintern noch in das Latexkleid pressen kann. Es klingelte, Maske auf, das war knapp. Ich kettete ihn mit den Handschellen an den kaputten Heizkörper. Nackt natürlich, so wie sich das gehört. Ich fuchtelte ein bisschen mit der neuen Peitsche rum und dann ging ich erst mal ins Bad. Weil ich vergessen hatte, den Lippenstift aufzutragen. Und weil ich keinen Plan hatte, was ich da eigentlich machte. Dort blieb ich erst mal zehn Minuten. Vielleicht war das ganze doch eine Scheißidee. Dann fing Stefan an, um Schläge zu betteln. Er wimmerte und flehte und wurde immer lauter. Schließlich ging er mir so krass auf die Nerven, dass mir nix anderes übrig blieb, als die Sache zu Ende zu bringen. Also schrie ich ihn an, stopfte ihm sein Maul mit der Klopapierrolle und griff zur Peitsche. Zweihundert Euro gab er mir dafür. Meine Highheels leckte er auch noch sauber. Nicht schlecht für den Anfang. Und weil gerade einmal dreißig Minuten rum waren, hatte ich nachmittags noch genug Zeit, mit dem Geld mein Zimmer etwas aufzumotzen.

Die nächsten Tage in der Arbeit waren alle so abgelenkt von Pablos Suspendierung und meiner neuen Haarfarbe, dass ich mir problemlos einen neuen Kundenstamm aufbauen konnte: Mit jedem Burger ließ ich einfach eine Visitenkarte in die Papiertüte gleiten. Außer wenn schon Spielzeug drin lag, dann nicht. Kinder petzen ja gern. Als die fristlose Kündigung kam, waren knappe zwei Wochen um. Und ich war erleichtert. Mein Handy klingelte ununterbrochen und mein Domina-Terminkalender war voll. Zum Glück konnte sich Stefan meine Dienste da schon nicht mehr leisten und bettelte drum, mein 24-Stunden-Haussklave sein zu dürfen. Das war eigentlich ganz praktisch. Er putzte, kochte und ging für mich einkaufen. Weil meine Wohnung ja nur aus einem Zimmer besteht, musste er sich zwar immer im Kleiderschrank verstecken, wenn Kundschaft da war. Aber selbst das schien ihm sehr zu gefallen. Ich glaube, wir ergänzten uns gut.

Mit meiner Arbeit war ich sehr zufrieden. Meine Kunden waren alle super nett. Ich aß nie wieder Fast-Food, sprühte mir jeden Tag Gucci ins Dekolletee und erweiterte mein Folterrepertoire. Eines Tages, als ich zwischen zwei Kunden mal wieder Stefan an den Heizkörper fesselte – Mitarbeitermotivation und so – klingelte es an der Tür. Ich machte sie auf und ließ fast die Peitsche fallen, so heftig traf mich der Schock. Da stand er, und exte eine Bierflasche. Panisch kickte ich mit dem Fuß meine pinke Reisetasche außer Sichtweite, die neben der Tür gelegen hatte. Mein Gesicht wurde so heiß, dass ich dachte, die Maske schmilzt mir gleich weg. Ich räusperte mich und brachte ein kaum hörbares „Ja, bitte?“ heraus. Währenddessen glotzte er mich an. Einmal von oben nach unten und wieder nach oben. Naja, eher so schräg an mir vorbei, wie ich es von früher noch kannte. „Wohnt hier ne Nutte?“, lallte er mir entgegen. „Eine … bl… billllge Nutte?“ Er schwankte vor und zurück, so weit, als würde er gleich umkippen. „Nein, hier arbeitet eine Domina“, antwortete ich mit extra-tiefer Stimme und schnalzte mit der Peitsche durch seine Fahne. Die Flasche zerbrach vor seinen Füßen. „So einsch… Scheiß! Sow … so weit kommts noch, dass ichm… ich mich schlagen lass, ha! Von ner Frau …“ Ich schloss die Tür, ließ mich mit dem Rücken dagegen fallen. Mein Latexkleid fing mich auf und quietschte. Dann platzte ein Lachen aus mir raus. Ich lachte so sehr und so laut, wie schon ewig nicht mehr. Ehrlich gesagt, hatte ich da schon ganz vergessen, wie bescheuert sich meine Lache anhört. Und Stefan hing am Heizkörper und lachte mit – obwohl er gar nicht wusste wieso – bis uns beiden die Tränen runterliefen.

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